Sendereihe: "Macht und Menschenrechte" ( Unser Politikblog TV) November - dann in anderem Format

Dienstag, 8. Februar 2011

Wut, Wut auf die Konterrevolution

Von Pepe Escobar | 8.Februar 2011 Radio Utopie



Islamophoben aller Länder, haltet die Schnauze und hört auf den Klang der Macht des Volkes. Eure künstliche Nahost-Dichotomie – entweder „unsere Diktatoren oder Jihadismus” – war niemals mehr als ein billiger Trick. Politische Unterdrückung, Massenarbeitslosigkeit und steigende Lebensmittelpreise sind tödlicher als eine Armee von Selbstmordbombern. So wird wirklich Geschichte geschrieben; ein Land mit 80 Millionen Einwohnern – von denen zwei Drittel geboren wurden, nachdem ihr Diktator 1981 an die Macht kam, und obendrein das Herz der arabischen Welt – zerschmettert endlich die Mauer der Angst und geht auf die Seite der Selbstachtung über.
Ägyptens Neo-Pharao Hosni Mubarak schleuderte das Ausgangsverbot gegen das Volk, das aber keinen Moment die Straßen verließ. Die Polizei verschwand; die Bürger organisierten selbst ihre Sicherheit. Panzer rollten heran; die Menschen sangen „Hand in Hand, die Armee und das Volk stehen zusammen“. Dies ist keine Farbenrevolution aus dem Think-tank, das sind keine reglementierten Islamisten; dies ist der durchschnittliche ägyptische Bürger, der die nationale Fahne trägt, „zusammen, als Individuen, in einer großen ko-operativen Anstrengung zur Rückforderung des Landes“, mit den Worten der ägyptischen Schriftstellerin Ahdaf Soueif.
Aber dann, unausweichlich wie der Tod, hob die Konterrevolution ihren waffenstarrenden Kopf. Kampfflugzeuge MADE in USA und Militärhubschrauber flogen im Tiefflug über die Menge auf dem Tahrirplatz (zeichnet das Mubarak-Regime als die Besatzungsarmee Ägyptens; und man stelle sich den Aufschrei im Westen vor, wenn das in Teheran passieren würde). Militärische Kommandeure sind im staatlichen Fernsehen auf Schmusekurs. Eine Drohung, dass die in den USA gemachten Panzer in den Straßen – bemannt mit Elite-Kampftruppen – bald Ernst machen könnten (obwohl Soldaten zu Al-Dschazira-Reportern sagten, sie würden nicht einen Schuss abfeuern). Die Krönung war, dass der „subversive“ Al-Dschazira-Sender vom Netz genommen wurde.


Sag Hallo zu meinem charmanten Folterer
Die ägyptische Intifada – mit ihren vielfachen Bedeutungen – zerschlug die im Westen zusammengebraute Propaganda von „Araber sind Terroristen“ in tausend Stücke. Nun, nachdem die Köpfe endlich entkolonisiert sind, inspirieren die Araber die ganze Welt, lehren den Westen, wie man an einen demokratischen Wechsel herangeht. Und rate mal; man braucht nicht „shock and awe“ (Schock und Einschüchterung wie im Irakkrieg), illegale Auslieferungen, Folter und Billionen $ fürs das Pentagon, damit es funktioniert! Kein Wunder, dass Washington, Tel Aviv, Riad, London und Paris es nicht kommen sahen.
Wir sind jetzt alle Ägypter. Der lateinamerikanische Virus – bye-bye Diktaturen plus arroganten, kurzsichtigen Neo-Liberalismus – hat den Nahen Osten angesteckt. Zuerst Tunesien. Jetzt Ägypten. Als nächstes Jemen und vielleicht Jordanien. Bald das Haus Saud (kein Wunder, dass es das ägyptische Volk wegen der „Krawalle“ anklagte). Aber das nordafrikanische Erdbeben von Tunesien hat 2011 auch Anstöße von den Massenstreiks 2010 in Europa erhalten – Griechenland, Italien, Frankreich, England. Wut, Wut gegen politische Unterdrückung, Diktatur, Polizeibrutalität, Nahrungsmittelpreise außer Kontrolle, Inflation, miserable Löhne, Massenarbeitslosigkeit.
Der Pharao 2011 sieht aus wie eine Neuauflage des Shah von Iran 1979. Gewiss, es gibt keinen Ajatollah Ruhollah Chomeini, der die ägyptischen Massen leitet, und der frühere Chef der Internationalen Atomenergiebehörde, der Ägypter Mohammed el-Baradei, wird von nicht wenigen in den Straßen angeklagt, „unsere Revolution zu stehlen“. Aber es ist schwer, nicht daran zu denken, dass der Schah von Persien in Kairo begraben liegt, weil die Iraner nicht erlaubten, dass seine Leiche in die Heimat überführt wird.
Der Pharao reagierte auf die Intifada rasch mit der Ernennung seines „charmanten“ Geheimdienstzars Omar Suleiman zum Vizepräsidenten (der erste, seit der Pharao 1981 die Macht ergriff) und praktisch zum Nachfolger. Suleiman ist ein unheimlich charmanter CIA-Vertrauter „illegaler Auslieferungs“-Experte, der zahllose Foltersitzungen von angeblichen „Terroristen“ auf ägyptischem Boden überwacht hat; der Englisch sprechende Lord eines arabischen Guantánamo. Das Washingtoner Establishment ist nicht direkt unzufrieden.
Doch sollten die Imperialisten aufpassen: das letzte Mal, als die ägyptischen Straßen so glatt wurden, war 1919 in der Revolution gegen die Briten. Jetzt sind für alle, die Moslems und Christen, die Arbeiterklasse, die Mittelklasse, die arbeitslosen Massen, die Anwälte und Richter, die Gelehrten der al-Azhar Universität, die Studenten, die Bauern, die Theologen, die unabhängigen Journalisten und Blogger, die Aktivisten der Moslem Bruderschaft, die National Association for Change (Nationale Verband für Veränderung), die Bewegung 6. April, für alle sind die Tage von Mubaraks Farm der Tiere gezählt.
Fünf Oppositionsbewegungen – einschließlich der Moslem Bruderschaft – haben El-Baradei beauftragt, über die Bildung einer „nationalen Rettungsregierung“ für den Übergang zu verhandeln. Die Wahrscheinlichkeit, dass der Pharao über irgendetwas verhandelt, ist nahezu null. Ein zusätzlicher Punkt in der komplexen Geschichte ist, dass die Mehrheit der jungen, städtischen Aktivistengeneration eher den „Volkskomitees“ vertraut als el-Baradei.
Sicher ist, was die nächsten Wahlen im Sepember angeht, dass Muburak, 82, dann tot ist. Und ebenso sein Sohn Gamal, 47. Unbestätigten Berichten zufolge ist er in der typischen Manier von Diktatorsöhnen nach London mit einem britischen Pass abgehauen, ohne großes Gepäck, und hat sich in seinem Stadthaus in Knightbridge versteckt.
Die entscheidende unmittelbare Zukunft hängt davon ab, wem die ägyptische Armee zuneigen wird. Wie es aussieht, ist selbst eine Tiananmen-Option – harte Unterdrückung – nicht völlig ausgeschlossen. Das Machtspiel des Regimes ist jedoch klar; der Pharao besteigt vielleicht ein Flugzeug – als Antwort auf die Lieder auf der Straße – aber das Regime, eine Militärdiktatur muss bleiben.
General Hussein Tantawi, Oberkommandierender der Streitkräfte und Verteidigungsminister, der vom Pentagon hochherrschaftlich bewirtet wurde – von denen er auch 1.3 Mrd. $ im Jahr an „Hilfe“ erhält – flog zurück nach Kairo. Parallel dazu hat der Pharao, verzweifelt an die Ängste des Westens um „Stabilität“ appellierend, versucht, die ganze Intifada als einen zügellosen Mob von gierigen Slumbewohnern dargestellt, der auf Chaos und Zerstörung aus ist. Eine Reihe von ägyptischen Bloggern ist unerbittlich – diese Strategie soll das Volk zurück in seine Häuser treiben und um „Sicherheit“ bitten lassen.
Issander El Amrani betont auf The Arabist blog, „dass es schwer zu glauben ist, dass Mubarak noch etwas zu sagen hat, und dass der Kern des Regimes harte Maßnahmen ergreift, um ihre Stellung zu retten“. Auf der Straße herrscht ein überwältigender Verdacht, dass Washington an der Spitze des Regimes einen Coup vorbereitet – die US/Israel Karte mit der Formel „vielleicht kein Mubarak, aber entschieden keine Regime-Veränderung“. Gleichzeitig haben die saudischen, israelischen und offiziellen ägyptischen Medien alle Hemmungen aufgegeben, um die Revolution zu diskreditieren. Um eine Perspektive anzulegen: in den USA hatte man Ronald Reagan (2 mal), George H. W. Bush, Bill Clinton (2 mal), George W. Bush (2 mal) und Barack Obama. In Kairo hatte man immer nur Mubarak.
Die verarmte, aber stolze und gebildete ägyptische Mittelschicht und die Arbeiterklasse würden nichst lieber wollen als ein Land, das die Gesetze befolgt und transparente Wahlen abhält. Wie könnten sie nur im geringsten Suleiman, einem CIA-Verbindungsmann und Folterer, trauen, den Übergang durchzuführen? Von dem Parlament ganz zu schweigen, das völlig von der unglaubwürdigen National Democratic Party Mubaraks kontrolliert ist, deren Hauptquartier von den Demonstranten abgefackelt wurde?
Gehen wie ein (Dissident) Ägypter
Ich verbrachte zwei Monate in Kairo und Alexandria Anfang 2003 und wartete auf die Bush-Invasion im Irak. Ich war fast ständig mit einer Menge von Gegnern des Mubarak-Systems zusammen, von Studenten bis zu sudanesischen Immigranten und auch mutlosen Vertretern jener 40% der Bevölkerung, die von weniger als 2 $ pro Tag lebt. Überflüssig zu sagen, dass sie alle Mubarak als einen widerlichen Washingtoner Pudel ansahen – und alle waren schockiert von dem Schicksal Iraks, in Ägypten historisch hoch angesehen als die östliche Flanke der arabischen Nation. Ihre Ansicht von dem Regime war von der Art „werft die ganze Bande in den Nil“.

   
Es war alles sehr aufschlussreich – und sehr schmerzlich – vor Ort von den Konsequenzen zu erfahren, die das Mubarak-Regime als getreuer Schüler des von den USA erzwungenen Neo-Liberalismus mit sich brachte. Die städtische Mittelklasse war praktisch verschwunden. Die Arbeiterklasse war unterjocht durch die eiserne Kontrolle der Gewerkschaften. Und die ländliche Mittelklasse – die frühere Basis des Regimes – schrumpfte auch, je mehr junge Leute in die Städte gingen, um einen Job zu finden (was vergeblich war). Es überlebte nur eine kleine, korrupte mit dem Staat verknüpfte Unternehmensklasse (von denen die meisten jetzt nach Dubai in ihren Privatjets abdüsten).
Es ist also kein Wunder, dass dies keine islamische Revolution wie in Iran 1979 ist. Es geht um die Ökonomie, ihr Dummköpfe. Der Islam in Ägypten ist heute in zwei Richtungen gespalten; die unpolitische Salafiyya und die Moslem Bruderschaft – dezimiert durch Jahrzehnte der Repression und Folter und letztlich auch ohne ein explizites politisches Programm, abgesehen davon, dass sie soziale Arbeit leistet, die von dem Staat vernachlässigt wird.
Die Tatsache, dass die Bruderschaft bei der Revolution bisher abseits stand, hat mit zwei Faktoren zu tun. Hätte sie sich zu weit zum Fenster rausgehängt, wäre das für Mubarak die perfekte Entschuldigung gewesen, die Revolution als von den „Terroristen“ zusammengebraut zu bezeichnen. Außerdem war die Einschätzung der Bruderschaft, dass sie diesmal nur ein Akteur unter vielen ist.
Dies ist eine spontane Bewegung des Volkes, die den Spuren von Kefaya („Genug!“) folgt – eine „gelbe“ Bewegung (ihre bevorzugte Farbe) von Intellektuellen und politischen Aktivisten, deren Slogan bereits 2004 war: La liltamdid – La lil-tawrith („Nein für ein neues Mandat – nein für eine Erb-Republik“).
Kefaya, obwohl eine elitäre, führerlose, nicht-ideologische Bewegung, war der Funke, der tausend Bewegungen schuf wie etwa „Journalisten für eine Veränderung“. „Arbeiter für eine Veränderung“, „Ärzte für Veränderung“ oder „Jugend für Veränderung“, was schließlich zu der gegenwärtigen Welle der urbanen, mittleren und unteren Mittelklasse, Bürgern mit Web-Kenntnissen führte, die zahllose online-Foren organisierten.
Eine weitere entscheidende Entwicklung ist der Textil-Arbeiterstreik von 2008 in der Stadt Mahalla al-Kubra im Nildelta gewesen, als drei Menschen am 16. April von dem Sicherheitsapparat Mubaraks getötet wurden – die zu der gleichlautenden Online-Bewegung Anlaß gab.
Der Heilige Gral war immer, die Massen umfassend mobilisieren zu können. In der vergangenen Woche schaffte man endlich den Sprung. Die Kefaya-beeinflusste Jugend bevorzugt immer noch die Volkskomitees vor Politikern zur Vorantreibung dieser Revolution. Der Puls der Straße scheint dahin zu deuten, dass viele Ägypter nicht wollen, das irgendeine politische oder religiöse Ideologie das monopolisiert, was im wesentlichen eine fließende, pluralistische, vielförmige Bewegung ist, die dazu neigt, das Land radikal zu reformieren und es zu einem neuen Modell für die ganze arabische Welt macht. Das klingt vielleicht sehr verführerisch romantisch. Aber das Verlangen nach einer Katharsis ist unausweichlich nach drei Jahrzehnten Leben auf einer Tierfarm.
Ich rebelliere, deshalb bin ich
Professor Fawaz Gerges von der London School of Economics verwies darauf, dass all dies „über Mubarak hinausgeht. Die Barriere der Angst ist beseitigt worden. Es ist wirklich der Anfang des Endes vom status quo in der Region“. Es ist eigentlich noch größer; es ist ein bildhaftes Beispiel einer Graswurzelbewegung, eines organischen politischen Aktivismus.
Oder in der Elitesprache des Gurus der US-Außenpolitik Dr. Zbigniew Brzezinskis ist dies sein gefürchtetes „globales politisches Erwachen“ in Aktion – die Generation Y quer durch alle sich entwickelnden Länder, wütend, rastlos, verzweifelt, emotional erschüttert, großenteil arbeitslos, ihrer Würde beraubt, die ihr revolutionäres Potential ausspielt und den status quo vom Kopf auf die Füße stellt (auch wenn der Pharao den größten Internet Blackout der Geschichte verursachte).
So sehr Fefaya ein Funke war, so war es auch die Facebook Revolution – jetzt neu benannt in den Straßen von Kairo, Alexandria und Suez in Sawrabook (das Buch der Revolution). Das RASD („überwachend“ auf arabisch) Netzwerk wurde schon am ersten Tag der Proteste am vergangenen Dienstag lanciert und als eine Art von „Observatorium der Revolution“ entwickelt.
Es ist wichtig zu notieren, dass zu dem Zeitpunkt – weniger als vor einer langen Woche – Al-Dschazira noch nicht auf dem Plan war und das ägyptische StaatsTV wie gewöhnlich fade Schwarz-Weiß-Filme zeigte. In nur drei Tagen hat RASD 400 000 Leute in Ägypten und im Ausland im Netzwerk vereinigt. Als das Pharao-Regime aufwachte, war es bereits zu spät – Internetabschaltung und alles.
Es ist dieser Geist der Solidarität in Aktion, der auf die Straßen schwappte in Form junger Aktivisten, die feste Telefonleitungen benutzten, Verletzungen dokumentierten und ad-hoc-Kliniken auf die Beine stellten. Oder in Form der gewöhnlichen Kairo-Bewohner, die ihre Wohnungen sicherten und Nachbarschaftswachen aufstellten, um sich vor Plünderern und Gaunern zu schützen – die ID s von von Sicherheitsdiensten bei sich hatten und Waffen vom Mubarak-Regime, wie weithin von Bloggern berichtet wurde.
Wie alarmiert und rarer werdend die globalen Eliten jetzt auch sein mögen – man muss nur das Durcheinander von Widersprüchlichkeiten verfolgen, das aus Washington und den europäischen Hauptstädten sickert – so ist zumindest Brzezinski schlau genug gewesen, um zu sehen, wo’s lang geht: „… die großen Weltmächte, neue und alte – stehen einer neuen Realität gegenüber: während die Sterblichkeit ihrer militärischen Macht größer denn je ist, ist ihre Fähigkeit, die Kontrolle den erwachten Massen der Welt aufzuzwingen, auf einem historischen Tiefpunkt“.
Die alte Ordnung stirbt, aber die neue ist noch nicht geboren. Das Zeitalter der Wut in dem Bogen von Nordafrika bis zum Nahen Osten mag da sein – aber noch weiss niemand, wie die nächste geopolitische Konfiguration aussehen wird. Wird das Volk etwas zu sagen haben – oder wird alles eingezäunt und kontrolliert werden von den künftigen Mächten?
Ägypten wird nicht zu einer funktionierenden Demokratie werden aus Mangel an Infrastruktur. Aber es muss bei Null beginnen und mit einer Opposition, die fast so geschmäht wird wie das Regime. Die jüngere Generation – gestärkt durch das Gefühl, auf der richtigen Seite zu stehen, wird entscheidend sein.
Sie wird keine optische Illusion von Regierungswechsel akzeptieren, die eine andauernde „Stabilität“ garantiert. Sie wird nicht akzeptieren, von den USA und Europa als Geisel genommen zu werden und mit einer neuen Marionette beschenkt zu werden. Was sie will, das ist der Schock des Neuen; eine wirklich souveräne Regierung, kein Neo-Liberalismus mehr und eine neue politische Ordnung im Nahen Osten. Man kann eine erbitterte Konterrevolution erwarten. Und die weit über ein paar Bunker in Kairo hinausreicht.
Übersetzt von Einar Schlereth
Quelle: http://www.uruknet.de/?s1=1&p=74480&s2=01
Erscheinungsdatum des Originalartikels: 31/01/2011
Artikel in Tlaxcala veröffentlicht: http://www.tlaxcala-int.org/article.asp?reference=3717

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